08 September 2011

OPIUM HILFT DEN ARMEN
GEGEN HUNGER UND SCHMERZEN
Riten und Suchtmittel in den Dörfern der indischen Wüste

Es war eine Familienfeier in einem Dorf bei Jaisalmer/Rajasthan. Meine indischen Freunde hatten mich gebeten mitzukommen. Es gab einen Erstgeborenen in der Familie des ältesten Sohnes zu feiern. Voller stolz nahm ich mit verschränkten Beinen – wie alle Gäste – im Kreise der Anwesenden Platz. Oh, dachte ich, diese ungewohnte Haltung werde ich nicht lange durchstehen können.

Opiumzeremonie in einem indischen Dorf
Es wurde ein Tee gebracht und ich dachte, ich müsste mal aufstehen um mir ein wenig die Beine zu vertreten, was ich aber unterließ, um nicht den geselligen Kreis aufzubrechen. Meine Beine begannen im Wechsel einzuschlafen und wehzutun. Ich konnte sie aber nicht bewegen, um ihre Durchblutung zu verbessern. Ich quälte mich stillschweigend und machte ein freundliches Gesicht.

Der Tee wurde in ein kleineres Gefäß umgefüllt das dann herumgegeben wurde. Der erste Gast goss sich einen guten Schluck in seine rechte Hand und hielt diese seinem Nebensitzenden hin, der diese ausschlürfte. Das Gefäß wanderte weiter und der Vorgang wiederholte sich. Schließlich kam ich in den Genuss, die Hand meines Sitznachbarn ausschlürfen zu dürfen. Der Saft schmeckte eigenartig fad. Ich übernahm die kleine Kanne, goss etwas in meine Hand und ließ meinen Nebensitzer schlürfen. Als ich die Kanne weiter gab, merkte ich, dass ich in meinen Beinen keinen Schmerz und kein Kribbeln mehr wahrnahm.  Erneut erreichte mich das rituelle und mein Nachbar teilte mir großzügig zu. Auf meine Frage was es denn sei, dass da die Runde macht, sagte jemand, der mein Englisch verstand, schlicht: „Opium“.

Ich war einigermaßen überrascht, rituellen Opiumgebrauch hatte ich eher im Thailand, China oder Afganisthan erwartet. Opium hier in der Wüste Thar, am Rande der indischen Zivilation?

Tatsächlich ist Indien ist einer der weltweit führenden Hersteller von legalen Opium. Außer in Rajasthan ist in Madhya Pradesh und in Uttar Pradesh der Opiumanbau Teil der Landwirtschaft. Insgesamt werden für die weltweite Nachfrage nach Opium nach Zahlen von 2000 jährlich bis zu 1200 Tonnen produziert, davon 870 Tonnen für den Export, 130 Tonnen für den eigenen Bedarf und 200 Tonnen als Puffermenge um Lieferengpässe zu vermeiden. Es wird davon ausgegangen, dass eine nicht geringe Menge des Opiums in illegalen Kanälen verwindet bzw. gar nicht erst erfasst wird. Darüber hinaus gilt Indien als Durchgangsland der jetzt wieder kräftig ansteigenden Ernten in Afganisthan, dessen Produktion jedoch überwiegend auf illegale Märkte der westlichen Länder zielt.

Der legale Anbau von Opium zu medizinischen Zwecken findet in Indien unter strengen Lizenzbedingungen in ausgewählten Anbaugebieten statt. Jedes Jahr setzt die Zentralregierung jene Flächen fest, die zum Anbau zugelassen werden. Wichtigstes Kriterium ist ein Qualifying der Vorjahresernte auf der Grundlage von Laborwerten sowie ein Vorjahres-Mindestertrag pro Hektar. Nur Bauern, die diese Mindestmenge und –qualität im Vorjahr angedient haben, können mit weiterer Lizensierung ihrer Flächen rechnen.

Die Gewinnung von Opium findet in den Monaten Februar und März statt. Die Bauern verwenden immer noch immer noch die traditionelle Methode, bei der sie jede einzelne Mohnkapsel manuell mit einem speziellen Messer anritzen. Das Anritzen muß ist am späten Nachmittag oder abends erfolgen. Der Opiumsaft sickert in der Nacht aus den Kapseln, erstarrt und kann in dieser Form in den Morgenstunden abgeschabt und eingesammelt werden. Die Einlieferung bei von der Regierung eingerichteten Sammelstellen erfolgt Anfang April. Das Opium wird auf seine Qualität und Konsistenz geprüft und abgewogen. Bezahlt wird nach Festpreisen, abhängig von der Qualität und Quantität. 90 Prozent werden sofort ausgezahlt, 10 Prozent werden bis nach Labortests zurückgehalten, die u.a. sicherstellen sollen, dass nicht durch illegale Beimengungen gemogelt wurde. Je nach Ertragsmenge wirft ein Hektar Opium pro Ernte zwischen 600 und 1400 indische Rupien ab (ca. 9 bis 21 Euro). Als Mindestertrag für die Opiumplantagen in Rajasthan waren 2009 genau 56 Kilogramm pro Hektar festgesetzt. Jedes Feld wird von Mitarbeitern des Central Bureau of Narcotics (CBN) bewacht und jede Bewegung kontrolliert.

Die Endverarbeitung des Opiums findet in Fabriken bei Neemuch und Gazipur statt. Dier wird der Stoff getrocknet und für den Exportvorbereitet. Stoffe wie Codeinphosphat, Thebain, Morphinsulfat, Noscapinium u.a. werden extrahiert und gesondert vermarktet.

Nach Auskunft der Zentralregierung haben derzeit 170.000 Familien in insgesamt 6.900 verschiedenen Dörfern eine Lizenz für legalen Opiumanbau. Bei einer durchschnittlichen Größe einer Famile von vier bis sechs Personen kann davon ausgegangen werden, dass in Indien ca. eine Millionen Bauern mit der legalen Opiumproduktion beschäftigt sind.

Da die Preise, die die Regierung für die Ernten bezahlt, liegt es auf der Hand, dass sich viele Familien einen Nebenverdienst verschaffen und Opium an über Land ziehende Kleinhändler abgeben. Dabei ist etwa das zwanzigfache des Regierungspreises zu erzielen. Auf diese Weise ist die Opiumversorgung Rajasthans sichergestellt. Der Konsum dieser Droge hat eine gewisse Tradition: Schon in antiken Zeiten wurde das Opium von den Rajputen Kriegern eingesetzt. Es war dafür bekannt, dass es Mut verleiht, Blutungen und Schmerzen vermindert,  das Bewusstsein erweitert. Der Konsum war jedoch auf eine gewisse Oberschicht beschränkt. Auch als Medizin ist Opium in Indien lange bekannt. Kleinkindern gab man geringe Mengen als Schlafmittel, damit die Mütter Zeit hatten um ihrer Arbeit auf den Feldern nachzugehen.

Auch der rituelle Gebrauch, wie ich ihn im Kreis einer indischen Familiengemeinschaft erlebt habe,  ist uralt und stammt aus grauer Vorzeit. Die Droge ist aufgrund ihrer Geschichte in der Gesellschaft rajasthanischer Dörfer tief verankert und wird kaum als Übel angesehen. Mir sagte ein Familienvater, seine Frau nehme täglich Opium, weil es viele Vorteile habe: es spare Geld, weil Opium das Hungergefühl nimmt und man weniger zum Essen kaufen müsse außerdem spüre seine Frau die Schmerzen nicht, die ihr die Krüge verursachen, die sie vom weit entfernten Brunnen herbei schleppen muss. Neben dem Konsum von Rohopium ist auch der Gebrauch von „Doda“ verbreitet, ein Aufguss aus den Fruchtständen der Schlafmohn-Pflanze. Wie verbreitet ist der Opiumgebrauch heute in Rajasthan? Eine Studie des Desert Medicine Research Center (Jodpur) gibt darüber Aufschluss. Danach sind zwischen sieben und acht Prozent der Landbevölkerung opiumsüchtig. Doch statt wie früher die Wohlhabenden zu ihrem Vergnügen, konsumieren heute die Armen, die mit Opium Hunger und Schmerz betäuben.

Nach der Untersuchung der Ärzte aus Jodpur sind bei 3640 Befragten in 1200 Haushalten im Bezirk Barmer 8,4 % süchtig, im Bezirk Jaisalmer 7,9 % und im Bereich Bikaner 6.9%. Die Wissenschaftler erfassten insgesamt 45 Dörfer. Die geringste Zahl der Süchtigen waren Frauen (0,3 %). Die Rate der des Konsums steigt an, was darauf schließen lässt, dass die Zahl der Süchtigen zunehmende Tendenz hat. Am höchsten war die Zahl der Süchtigen in der Altersgruppe der 40 bis 50jährigen. Mit mangelnder Alphabetisierung nahm die Rate der Süchtigen zu, was den Schluss zulässt, dass Bildungsniveau und Drogenabhängigkeit in direktem Zusammenhang steht. Als Gründe für den Konsum gaben die Befragten an erster Stelle an, sie könnten so länger ohne Erschöpfung auf den Feldern arbeiten. Tatsächlich arbeiten die Menschen unter Opiumeinfluss mehr, essen aber weniger. Der gesundheitliche Verfall besonders der armen Landbevölkerung aber wird forciert. Für viele war die Einnahme von Opium bei leichten Krankheiten der Einstieg in die Sucht. Der Gebrauch von Opium in Rajasthan ist der Studie zufolge nicht auf eine Kaste oder Religion beschränkt. In der Untersuchungszeit haben die Mediziner aus Jodpur den abhängigen Menschen medizinische Hilfe angeboten, um von ihrer Sucht loszukommen. Wie viele drauf eingegangen sind, wurde nicht berichtet. Die Untersuchung wurde im Jahr 2000 durchgeführt und 2009 veröffentlicht.

Doch eine weitere Droge beeinträchtigt die Menschen in Rajasthan, besonders die Armen und Ungebildeten. Im Volksmund nennt man das Zeug „Desert Wiskey“ oder „Country Liquor“.  Meine Kamelleute verschwanden bei unseren Trecks durch die Wüste immer mal wieder, um dann mit zu geschweißten Plastikbeuteln zurückzukehren, die eine geheimnissvolle Flüssigkeit enthielten. Überall in der Wüste ist dieser billige Schwarzbrand zu haben. Auf die Frage, aus was er denn gemacht wird, sagten mir meine Begleiter „from trees and bushes)“ (aus Bäumen und Büschen). Tatsächlich ist die Ausgangsbasis die in der Gegend wachsende Dornmelde (Mahuwa), ein Baum, dessen Blüten zur Herstellung der Maische verwendet werden. Diese hat 7 bis 10 Prozent Alkohol und wird auf 15 bis 30 % hoch destilliert. Immer wieder gibt es Unfälle durch unsachgemäßes Maischen, Gären und Destillieren. Dabei entsteht ein überhöhter Methylalkoholgehalt, was die Erblindung, ja sogar den Tod der Konsumenten zur Folge haben kann.

Unter der Wirkung des Wüsten-Wiskeys werden die zuverlässigsten Kamelleute zu stupiden kleinen Jungs, die eine nicht geringe Gefahr für sich und ihre Mitmenschen darstellen. Ein Betrunkener Kamelführer hat einmal mit seiner Beedie-Zigarette unser gesamtes Lager in Brand gesteckt und wir sind mit knapper Not ohne Personenschäden davongekommen. Unsere gesamten Decken und das Sattelzeug waren verbrannt.

Fazit: Auch noch so traditionell verankerte Suchtstoffe schaden den Menschen, fördern ihre Ausbeutung und machen besonders die Armen noch ärmer.

Quellen:



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