23 Oktober 2011

INDIEN: VON BOMBAY NACH GOA - Eine außergewöhnliche Fahrradtour


 Millionen von Menschen zwischen Srinagar im Norden Indiens in den Bergen des Himalaja und Trivandrum an der Südspitze des Subkontinents steigen täglich auf ihr Fahrrad, um zur Arbeit zum Markt oder einfach ins Nachbardorf zu kommen. Der größte Hersteller von Fahrrädern in der Welt produziert in Ludhiana im indischen Bundesstaat Punjab jährlich mehr als drei Millionen Fahrräder. Radfahren ist in Indien eine Selbstverständlichkeit. Wenn allerdings ein weißhäutiger Tourist irgendwo auf dem Lande per Pedale unterwegs ist, kann das fürr erhebliches Aufsehen sorgen. Im Jahre 1995 bewältigten wir fast 700 Kilometer Strecke entlang der indischen Westküste mit einem indischen Fahrrad und lernten auf diese Weise Land und Leute aus einer besonderen Perspektive kennen. Hier der Bericht:


Das Gedränge ist wirklich unbeschreiblich: Zum ersten Mal in meinem Leben war ich außerhalb Europas und bin gleich im Javeri Bazar gelandet, einem Straßenzug im Herzen Bombays, der einem Ameisenhaufen gleicht. Auf der eigentlich nur zweispurigen Straße bewege ich mich in einem sechsspurigen Verkehrsfluß, ständig von hinten aufkommenden Karren ausweichend, die Stoffballen, Mehlsäcke oder Maschinenteile durch das Chaos transportieren, gesteuert von Männern in kurzen Hosen und simplen Plastiksandalen wie Frachtschiffe in einem stürmischen Meer aus Menschleneibern. Mindestens genauso fremd sind mir die freilaufenden Rinder und Ziegen, die hier den Abfall auf der Straße vertilgend, durch die Masse aus Leibern, Ware und Unrat weiden. Plötzlich tritt die Menge voller Ehrfurcht zur Seite, viele legen die gefalteten Hände an die Stirn und verbeugen sich leicht. Gegenstand der Anbetung ist ein riesiger Elefant, der majestätisch durch die Menge schreitet, ein Arbeitstier als Gottheit verehrt. Ich suche in dem Gewühl etwas ganz Profanes: einen Laden, der eine halbwegs anständige Auswahl an Fahrrädern hat. Wir sind zu dritt. Sven, mein Begleiter, ist 16 Jahre alt und wie ich auf der Suche nach dem Abenteuer. Im Touristencafé "Leopold" am Colaba Causeway hatten wir Christiane, eine 35jãhrige Abenteurerin aus Bayern, kennengelernt, die unser Plan spontan begeistert hatte: Von Bombay nach Süden radeln, ungefähr sechshundert Kilometer - fernab jeder touristischen Route - immer an der Küste entlang ins Hippieparadies Goa. Entgegen allen Erwartungen hat das Abenteuer bereits hier im Bazar angefangen.

Fahrradjagd im Basar

"Irgendwo muß dieser Laden doch sein", knurre ich gerade, als ich fast über eine mitten im Weg aufgestellte Reihe verschiedenster Drahtesel stolperte. Hier muß es sein "Metre Cycle" steht über der Tür des Ladens in der Kalbadevi Road. Als Weißer werde ich natürlich vom Chef persönlich bedient. Ein einfaches Tourenrad ohne Gangschaltung soll hier umgerechnet etwa 70 Mark kosten, doch ich habe angesichts der gewaltigen Strecke etwas Besonderes im Auge. Hinten im Laden stehen die neusten Mountainbikes der Firma Hero, die in Nordindien jährlich Millionen von Rädern nicht nur für den indischen Markt produziert. Der Rahmen scheint hinreichend stabil, die Schaltung mit 18 Gängen, technisch zwar nicht der  letzte Schrei, aber gut genug zu sein. Die Räder sind mit 170 Mark allerdings mehr als doppelt so teuer wie die einfachen Modelle, also versuche ich mein Glück mit Handeln. Bei drei gleichzeitig erworbenen Mountainbikes   läßt sich der Händler zu einem nicht unerheblichen Rabatt herab und sagt zu, daß im Endpreis Gepäckträger und Beleuchtung - sonst nicht serienmäßig - eingeschlossen seien. Drei Tage später sollen die ausgesuchten Räder abholbereit sein.
Da stehen wir nun: drei abenteuerlustige unbedarfte Europäer mit Fahrrädern mitten in einem indischen Basar. An Radfahren ist in der Innenstadt von Bombay nicht zu denken. Doch es naht Hilfe. Ein Taxifahrer bringt sein Gefährt in unserer unmittelbaren Umgebung zum Halten und beginnt, unsere Drahtesel auf seinem Dachgepäckträger zu verstauen. Es dauert eine Weile, bis sich der Mann durch das Gewühlhl auf eine Durchgangsstraße vorangekämpft hat, zehn Minuten später stehen wir vor unserem Hotel - zusammen mit unseren Rädern.

Im India Guest House in Colaba, gegenüber des Radio Clubs übernachten fast ausschließlich Rucksacktouristen, das Personal ist Verrücktheiten gewohnt. Also macht es kein Problem, die Räder über Nacht in die dritte Etage mitzunehmen und vor der Zimmertür anzuketten. Ein sicheres Schloß, besser noch zusätzlich eine Wache sind in diesem Land, in dem Millionen Mangel leiden, unerläßlich.
Mit dem freundlichen Taxifahrer haben wir für den nächsten Morgen eine Fahrt zum Fährhafen (New Ferry Wharf) vereinbart. Er erscheint pünktlich, doch die erste Fähre hinüber nach Revas, auf der Südseite der Bucht von Bombay fährt ohne uns ab. An der Einfahrt zum Hafen begegnet uns erstmals indische Bürokratie in Reinkultur. Der Wächter will uns mit Fahrrädern nicht passieren lassen und versteigt sich sogar zur Behauptung, daß es für Ausländer nicht erlaubt sei, allein und ohne Begleitung zur anderen Seite überzusetzen. Statt, wie möglicherweise erwartet, mit einem größeren Trinkgeld den Weg zu ebnen, suche ich in endlosen Bürogängen des Zollgebäudes den zuständigen  Vorgesetzen, der schließlich Anweisung gibt, uns passieren zu lassen. Kaum schieben wir unsere Räder durch die Wartehallen Richtung Pier, strecken sich uns schon hilfreiche Hände entgegen und verstauen unsere Drahtesel zusammen mit Packen , Bündeln und Zweirädern der Einheimischen auf dem Vorschiff einer klapprigen Holzfähre. Nur mit Mühe gelingt es uns, zwischen den vielen Passagieren einen Platz auf einem Bänkchen zu ergattern, doch bevor das Schiff endlich mit großem Hallo ablegt, steigt noch etwa die doppelte Anzahl von Passagieren zu, so daß nicht einmal ein Stehplatz freibleibt. Die nassen Festmacherleinen fliegen durch die Luft und platschen spritzend an Deck, dann schiebt unser Kahn schon seinen Bug in das schutzig-trübe Wasser der Bucht von Bombay. Wir erkennen im Smog-Dunst am Ufer der Bucht das "Gateway of India", das monumentale Tor aus gelben Basalt, durch das früher, als es noch üblich war, mit dem Dampfer von Europa in den Subkontinent zu reisen, die Passagiere ihren ersten Fuß an Land setzen. Dieser Triumphbogen sollte den britischen König Georg V. ehren, als er 1924 seine Kolonie besuchte. Gleich daneben erhebt sich, nicht minder monumental das berühmte "Taj Mahal- Hotel" immer noch die erste Adresse für  Besucher der Stadt. Nirgendwo in der Welt berühren sich die Welt der Armen und die der unermesslich Reichen so dicht, wie auf dem Platz zwischen "Gateway of India" und "Taj-Mahal-Hotel": Auf der einen Straßenseite  hausen Kompanien von Bettlern, Schuhputzern und umherziehenden Händlern, auf der anderen Seite fahren die schweren Karossen der indischen Multimillionäre, der Maharajas, der ausländischen  Diplomaten und der indischen Politiker und Beamten vor. Für Ordnung sorgen hier die adrett uniformierten Wächter und Portiers des Hotels mit ihren Turbanen und goldenen Tressen an den Jacken. Für Touristen ist es möglich, als Beobachter durch diesen scharfen Gegensatz von Armut und Wohlstand zu spazieren, allerdings nicht, ohne sich auf der einen Straßenseite zu einer milden Gabe übereden zu lassen und auf der anderen sich den kritischen Blicken der Hotel-Türsteher auszusetzen. Doch die Luxusherberge kennt keinen Dünkel: auch ohne Krawatte ist man in den Shops und Cafés rund um die Hotelhalle willkommen. Drinnen umfängt den Gast die behagliche Kühle einer gut funktionierenden Klima-Anlage. Zum besten, was Bombay auf diesem Gebiet vorzuweisen hat, gehört der Buchladen des Hotels. Im Café gibt es einen sensationellen Becher Vanilleeis mit frischen Erdbeeren und in der Bar auch Hochprozentiges aus europäischer Produktion.
Hinter dem Tor und dem Hotel ragt die Skyline vom Bombay in den Himmel, Hochhäuser, die in den letzten Jahren rund um den Nairman Point entstanden sind, darunter das Hoechst-Haus, in dem sich unter anderem das Deutsche Generalkonsulat befindet. Hier haben wir uns vor unserer Abenteuerreise abgemeldet und mit einer Empfehlung für indische Behörden ausstatten lassen, einem Papier, das uns noch gute Dienste leisten sollte.
An Backbord unserer Fähre ist schon nach ein paar Seemeilen "Elephanta Island" zu erkennen. Vom "Gateway of India" setzen täglich viele Dutzend Fähren hierhin über, weil die geheimnisvolle Elefanteninsel den wohl gröpßten kulturellen Schatz der Metropole birgt. Seinen Namen erhielt das Eiland durch einen steinernen Elefanten, der einst den Schiffslandeplatz zierte. Das Steintier ist inzwischen zerfallen. Attraktion sind aber bis heute die zwischen den Jahren 450 und 750 unserer Zeitrechnung entstandenen in den 174 Meter hohen, bewaldeten Inselfels gehauenen Höhlentempel mit ihren riesigen steinernen Figuren. Sie stellen anschaulich den Mythos um den hinduistischen Zerstörergott Shiva dar. Als portugisische Eroberer die Insel entdeckten, versuchten sie die Verbreitung des christlichen Glaubens dadurch zu fördern, daß sie die teilweise fast 10 Meter hohen Statuen beschädigten, jedoch ohne Erfolg. Die Figuren werden von den Touristen bis heute bestaunt und von den Hindus verehrt. Verehrung genießen außerdem hunderte von Affen, die auf "Elephanta Island" über die Felsen toben und um Leckerbissen betteln. Was sie nicht freiwillig bekommen, versuchen sie ahnungslosen Touristen aus Handtaschen und Umhängebeuteln zu stehlen.



Über die Bucht von Bombay

Im Hauptfahrwasser kreuzen riesige Frachtschiffe und Tanker unseren Kurs, die zu einem der zahllosen Hafenbecken oder Erdöllagern im Hafen der Millionenstadt streben. Inmitten der Industrieanlagen ist übrigens auch eines der wenigen indischen Atommeiler auszumachen, der uns bewußt werden läßt, daß es sich bei dem Lande um eine Atommacht handelt. Gleich darauf entdecken wir an der Steuerbordseite archaisch aussehende Frachtensegler, sogenannte "Machwa" die als Hafenzubringer die großen vor Anker liegenden Schiffe mit Obst und Gemüse versorgen.
Langsam nähert sich unserer Fährboot nach eineinhalbstündiger Fahrt dem Anleger von Revas, Unruhe erfaßt die Menge, jeder möchte zuerst seinen Fuß wieder auf festen Boden setzen. Wir lassen uns Zeit und gehen  als  die letzten von Bord des Schiffes. über den Anleger müssen wir unsere Räder schieben und dann ist erstmal die Zeit für eine Teepause in einer Bretterbude am Ufer gekommen. Ein freundlicher, schurrbärtiger Wirt serviert uns duftenden Milchtee, von den Einheimischen "Tschai" genannt und empfiehlt dazu frisch frittierte "Pakora", das sind Chillischoten oder Kartoffeln mit Kräutern in einen Mantel aus Teig eingebacken. Einige der Leckerbissen sind uns etwas zu scharf aber ein Schluck süßen Tees mildert den beißenden Geschmack auf Zunge und im Gaumen. Wir wollen die Gelegenheit nutzen, und uns über den Weg ins Dorf "Alibag" erkundigen, denn weit und breit sehen wir keine Häuser, nur ausgetrocknete Salzwiesen. Alle einheimischen Mitreisenden sind inzwischen mit einem verstaubten alten Klapperbus verschwunden. Unser Gastgeber zuckt jedoch auf unsere in bestem Schulenglisch vorgetragene Fragen nur mit den Schultern. War es in Bombay noch selbstverständlich auf Englisch zu kommunizieren, wird auf dieser Seite der Bucht nur noch Marati gesprochen. Wir versuchen es mit Händen und Füßen und siehe da: auf diese Weise ist eine fast präzise Wegbeschreibung zu erhalten. Also beginnen wir mit Hilfe von mitgebrachten Seilen unsere Rucksäcke auf den Gepäckträgern zu verstauen. Nach einer halben Stunde sind wir auf dem Weg Richtung Süden. Es dauert aber leider nur etwa dreihundert Meter, bis Sven plötzlich zuräckfällt. Seine Pedale hat sich gelöst und muß neu befestigt werden. Ein Stein vom Wegrand leistet dabei als Behelfshammer wertvolle Hilfe. Schließlich radeln wir durch das unscheinbare Fischerstädtchen Alibag, in dem sich in jüngeren Jahren auch ein Chemiewerk angesiedelt hat, als uns auf einem Teestand plötzlich jemand in akzentfreiem Deutsch nachruft: "Hey, wartet doch mal." Ein junger Weißer in T-Shirt und Safarihose winkt uns zu sich und stellt sich als Guido vor. Er und seine Freundin Claudia leben in Alibag. Guido sagt: "Als ich Euch sah, drei Weiße mit dem Fahrrad unterwegs, dachte ich, das können nur Deutsche sein. So verrückt ist sonst niemand." Die Einladung unseres Landsmannes in sein Haus am Ortsrand nehmen wir dankbar an, denn es wird bereits Abend. Guido ist Teilhaber einer Fabrik für Glasfaserkunststoff-Produkte. Gemeinsam mit seinen indischen Partnern fertigt er Rohre und Boote. Als Abnehmer für seine Plastik-Katamarane hat er die reichen Inder aus dem nahegelegenen Bombay im Auge. Der Wassersport ist an der Küste noch kaum entwickelt. Guido hofft, daß es bald üblich  sein wird, mit einer kleinen Motorjacht über die Bucht von Bombay zu flitzen. Unser Gastgeber lädt uns zu einem netten Abendessen im Restaurant "Windmill" in Alibag ein.



Rast bei über 27 Grad

Am nächsten Morgen starten wir sehr früh zu unserer Weiterfahrt Richtung Süden, ohne unsere Gastgeber zu wecken. Bei Temperaturen von etwa 27 Grad um die Mittagszeit empfiehlt es sich die Kühle des Morgens auszunutzen und spätestens gegen zwei Uhr nachmittags mit einer "Siesta" zu beginnen. Nach vier werden die Temperaturen dann wieder erträglicher. Bis wir endgültig zu einem Rhythmus gefunden haben, wird es noch eine Weile dauern. Sven wirft sich ordentlich in die Pedalen und ist bis zu einer Stunde voraus. Christiane, die die körperlichen Strapazen der Reise unterschätzt hatte, hängt teilweise ein oder zwei Kilometer zurück. Dennoch werden wir immer wieder aufgehalten. Es ist vor allem Svens Fahrrad, das uns immer wieder Ärger macht: die Pedalen lockern sich, die Kette springt ab oder sein Rucksack, nachlässig verschnürt, stürzt auf die Straße. Auf diese Weise kämpfen wir uns fünf Stunden voran, immer wieder aufgehalten durch provisorische Reparaturen. Schließlich fahren wir in eine riesige Kokosplantage ein, durch die unsere Landstraße führt, dann durch ein altes steinernes Tor. Fast hätten wir das Rasthaus übersehen, das gleich rechts der Straße liegt gegenüber von Bar und Restaurant. Revdanda ist ein, wenn auch wenig frequentiertes Ausflugsziel für Einheimische. Besucher werden durch die ausgedehnte Burganlage angezogen, eine Gründung portugiesischer Kolonialisten aus dem Jahr 1522. Zweihundert Jahre bestand die Festung als Handelssttzpunkt bis sie 1739 zerstört wurde. Heute findet man die Reste von Wohnquartieren, Lagerhäusern, zwei Kirchen  und einen alten Pulverturm als Fragmente zwischen Tausenden von Kokosnuß-Palmen verstreut in der Plantage. Mitten drin an der Straße liegen Gasthaus und Restaurant. Die kleine Pension ist einfach aber auch billig. Für etwa fünf Mark erhalten wir ein Zimmer und für weitere fünf Mark ist es möglich, in der Bar gegenüber zu schlemmen, was die indische Dorfküche hergibt: Hähnchencurry, Ziegenfleisch in scharfer Soße, dazu Brotfladen, sogenannte Chapatis oder Reis. Dazu hat das Restaurant gekühltes Bier, was nach einer stundenlangen Fahrradfahrt durch die Hitze so richtig gut durch die Kehle zischt.



Die indischen Westghats

Auch Revdanda ist ein Fischerdorf, wie wir am nächsten morgen feststellen. Eine Brücke überquert hier den Kundalika River, der wie viele Flüsse an der indischen Westküste das Wasser aus der regenreichen 40 bis 50 Kilometer entfernten und bis zu 1600 Meter hohen Bergkette ins Meer ablaufen Läßt. Westghats nennen die Inder diese Landschaft, die sich insgesamt 1600 Kilometer an der Küste entlangzieht.

Von Revdanda zieht sich eine der zahlreichen steilen und gewundenen Straßen die Berge hinauf. Sie endet in der 2,5 Millionen-Einwohner-Stadt Poona, deren Gärten, Tempel und Museen viele ausländische Touristen anziehen. Auch der Ashram, das geistige Zentrum der "Bhagwan-Sekte" von Osho Rajneesh befindet sich hier. Auf dem Weg in die Berge liegen die berühmten buddhistischen Höhlentempel von Karla und Bhaja. Uns zieht es nicht ins Bergland, in dem es auch im Winter gelegentlich feucht werden kann: mit Niederschlägen von bis zu 6700 mm im Jahr gehört der Bergerholungsort Mahabaleshwar zu den regenreichsten Gebieten nicht nur Indiens, sondern der Erde überhaupt. Uns zieht es weiter nach Süden durch das dicht besiedelte Küstenland, mit seiner tropischen Fruchtbarkeit, den palmengesäumten Stränden, den Lagunen, Fischerdörfern und Reisfeldern.




Mittelalterliche  Hafenplätze

Wie Revdanda ist auch Murud-Janjira, das wir nach fünf Stunden mit unseren Rädern erreichen, ein mittelalterlicher Hafenplatz gewesen. Auf den früheren Wohlstand des Ortes weist zunächst ein kleiner Palast hin, draußen vor dem schneeweißen Sandstrand in etwa drei Kilometern Entfernung liegt auf einer Insel eine Burg. Murud selbst ist heute ein beliebter Ferienort für Einheimische, Ausländer verirren sich selten hierher. Während der Woche gibt es hier so viele einfache Quartiere, daß es uns etwas Zeit kostet, das beste zu finden. Wir kommen bei einer moslemischen Familie unter, deren ältester Sohn etwas Englisch spricht. Der Palmengarten hinter dem Haus grenzt direkt an den Strand und lockt uns zu Spaziergängen am Ufer des Arabischen Meeres. Gerne hätten wir hier auch ein Bad genommen, doch bestimmte Winde sorgen dafür, daß zeitweise der ungeklärte Abwasseraustoß von Bombay an der Küste entlangtreibt. Der ruhige Küstenort verleitet uns jedoch dazu, ein paar Tage zu bleiben. Unsere Fahrräder brauchen einen Check, also suchen wir eine Werkstatt im Ort, in der wir uns die Schrauben nachziehen lassen, mit der Gangschaltung scheint die Werkstattcrew allerdings überfordert und es kostet uns einige Überzeugungskraft, die Leute davon abzuhalten, alles zu verstellen.

Wir lümmeln uns faul unter den schattigen Palmen in den Garten unseres Quartiers, verpflegen uns typisch indisch in den zahlreichen Restaurants und Bars am Strand. Wenn die Sonne tief über dem Meer steht, beginnen die Jungs aus dem Ort ihre Kricket-Spielfelder abzustecken und sich die Schlagbälle zuzuwerfen. Am folgenden Sonntag wird des allerdings ungemütlich im Ort. Alle Unterkünfte sind plötzlich von Indern bevölkert und es ist nicht mehr möglich, unbehelligt am Strand zu spazieren. Immer wieder werden wir aufgefordert, uns mit indischen Touristen zusammen zu einem Erinnerungsfoto aufzubauen, bis es uns schließlich lästig wird und wir beschließen weiterzufahren.

Plötzlich stehen wir vor einem Beamtenbungalow, dessen Hüter sich von unseren Papieren und unseren Bitten nicht erweichen läßt und uns die Unterkunft im Quartier für reisende Regierungsbeamte verweigert. Weil es schon dunkel ist und man uns nicht wegschicken kann, richtet uns der Verwalter des Bungalows in seiner Privatwohnung einen Raum mit Matratzen zur Übernachtung her. Auf unser Bitten erhalten wir ein typisch indisches Gemüsegericht mit Reis und Brotfladen. Nach der Malzeit sinken wir totmüde auf unsere Decken und schlafen tief und traumlos bis uns beißender Rauch weckt, der durch das geöffnete Fenster hineinzieht. Unser Gastgeber hat seine Kochstelle hinter dem Haus angeheizt, um den Morgentee zu bereiten. Ich schwinge mich aus meinem Schlafsack und spähe aus der niedrigen Tür. Vor mir breitet sich ein atemberaubendes Panorama aus. Unser Quartier steht auf einem Hügel an dessen Fuß sich ein palmengesäumtes Dorf mit zahlreichen Hütten an einem schneeweißen Sandstrand ausbreitet. überall dort unten steigen kleine Rauchschwaden auf, die davon künden, daß für die Bewohner der Tag begonnen hat. Auf der anderen Seite der Bucht steht auf einem riesigen Felsen eine gewaltige Burg mit Zinnen und Bastionen so da, als ob sie von den Portugiesen gerade erst gestern verlassen worden sei. Hinter der Burg befindet sich die Einfahrt zu einem sicheren Hafen in der Flußmündung, der kleineren Schiffen perfekten Schutz vor dem Südwest-Monsun bietet. Über allem schweben im Licht der aufgehenden Sonne zwei Seeadler, deren Schreie mir plötzlich die Stille und den erhabenen Frieden dieses Ortes deutlich machen. Ich setze mich auf einen Stein und genieße diesen Augenblick unserer Reise bis ich zum Tee gerufen werde.
Unser Frühstück schließlich nehmen wir später unten im Ort ein, während unsere Räder in einer Werkstatt durchgecheckt und repariert werden.

Die Felsen von Vengurla

Unser nächstes Etappenziel heißt Devgarh, ein Fischerdorf mit einem kleinen Hafen, einem Postamt und einem Krankenhaus. Tief schneidet hier eine Bucht ins Land, die wir landeinwärts umradeln. Die Küstenebene wird hier immer breiter und wir müssen darauf achten, nicht den Weg, der sich am Strand entlangzieht, zu verlieren.
Vor unserer Weiterreise in Devgarh empfiehlt man uns ein "Beach-Ressort" im 30 Kilometer südlich gelegenen Malvan. Als wir den Ort am Abend unseres elften Reisetages erreichen, weisen uns ein paar indische Jungs den Weg zu einem Zeltplatz. Etwa 30 dieser ambulanten Unterkünfte drängen sich auf einem mit dichten Büschen und Bäumen bewachsenen Platz direkt am Strand. Der freundliche Manager weist uns ein blitzsauberes Zelt mit drei schneeweiß bezogenen Betten zu. Wir duschen in einem Duschhaus am Rand der Anlage und begeben uns ins Strandrestaurant, das neben den indischen Spezialitäten auch europäische Kost (Nudeln, Eier und Toast) anbietet. Wir lassen es uns so richtig gut gehen und haben das Gefühl, dies durch die Entbehrungen der vergangenen Tage auch redlich verdient zu haben. Die Gastlichkeit des Ortes verleitet uns dazu,  hier zwei Ruhetage einzulegen. Wir spazieren am Strand entlang, genießen ein Bad in den hohen Wellen und die anschließende Süßwasserdusche. Im nahegelegenen Dorf sind Korbflechter und Bootsbauer bei der Arbeit zu beobachten.
Von Malwan aus entdecken wir draußen auf See die Vengurla Rocks, Klippen die seitjeher für die Schiffahrt gefährlich waren. Vor der blutrot untergehenden Sonne kann man die Felseninseln für die Segel arabischer Piratenschiffe halten, die früher den Landstrich plünderten. Heute krönt ein Leuchtturm den größten der Felsen und sorgt dafür, daß jede Verwechslung ausgeschlossen ist und Schiffe hier nicht mehr stranden können.

Der Blick auf die Klippen von Vengurla begleitet uns auf dem Weg nach Süden bis nach Goa.
Mehr als 450 Jahre wurde Goa durch europäische Kolonisten geprägt. 1506 eroberten die Portugiesen diesen vielleicht schönsten Abschnitt der indischen Westküste, um hier die Hauptstadt des Orients zu etablieren. Die Lage war einmalig: direkt im Schnittpunkt wichtiger Seerouten vom Persischen Golf und Ostafrika nach Ostasien. Gewürze, Seide, Edelsteine und -metalle wurden hier genauso gehandelt wie zum Beispiel arabische Pferde. Die Portugiesen betätigten sich häufig nur als Zwischenhändler für Waren die für das wohlhabende hinduistische Königreich Vijayanagar im Hinterland bestimmt waren oder von dorther zur Verschiffung herantransportiert wurden. Wunderbare Zeugnisse der kolonialen Architektur der portugiesischen Siedler haben sich hier seit 400 Jahren bis heute erhalten. So zieht es viele Besucher in die alte Stadt Goa (Old Goa), mit seinen Kirchen und Kathedralen aus dem 16. Jahrhundert. Unser Ziel ist eine andere Sehenswürdigkeit. 15 Tage nach unseren Aufbruch in Bombay erreichen wir mit Mapusa die erste Stadt in Goa. Von hier sind die nördlichen Strände erschlossen: Calangute, Baga, der Hippiestrand Anjuna und die beiden ruhigeren Strände Chapora und Arambol.  Unweit von letzterem Ort gibt es am Strand einen Süßwassersee und ein wenige Quadratkilometer umfassendes Dschungelgelände.






Eine geheimnisvolle Burginsel

Die Strecke wird nun hügelig, die Vorberge stoßen hier direkt an das Meer. Hinter der nächsten Klippe entdecken wir ein Dorf, palmengesäumt mit einer schneeweißen Moschee im Zentrum. Hierher lenken wir unsere Räder. Der Muezzin ruft die Gläubigen zum Mittagsgebet und es gelingt uns noch schnell von dem Mann im Teeladen ein Getränk zu bekommen, bevor er mit einem weißen Käppchen bedeckt, Richtung Gotteshaus verschwindet. Wir befinden uns, wie die Kinder am Wegrand erklären, in Janjira. Es gibt eine Fähre nach Dighi, die von hier den Rajpuir Creek überquert, doch wir wollen uns etwas umschauen. Unten am Wasser gibt es eine kleine gemauerte Pier, an der Segelboote ablegen, um Besucher zu einer der Küste vorgelagerten Burginsel zu bringen. Wir entschließen uns zu einem solchen Ausflug, ketten unsere Räder am Hafen an und schon geht es durch das blaugrüne Wasser hinüber zur Wasserburg. Das klobige Holzboot mit dem riesigen weißen  Trapetzsegel muß gegen den frischen Küstenwind kräftig aufkreuzen. Schließlich legen wir am Fuß der Burg direkt an einer algenbewachsenen Treppe an und betreten den Komplex durch eine Art Schleuse aus gewaltigen Steintoren. Steil führen die Treppen hinauf ins Innere der Befestigungsanlage. Hier befinden sich zwei künstlich angelegte Süßwasserteiche, ringsherum die Unterkünfte für die Besatzung. Unser Führer erklärt uns, die Burg sei die Gründung eines afrikanischen Fürsten gewesen, der von hier weite Teile der Küste kontrolliert habe.

Umkämpfte Küste

Tatsächlich gibt es heute nur wenige brauchbare Häfen an der Malabarküste. Die starke Strömung der zu Tal stürzenden Flüsse lassen die Einfahrten schnell auf Wassertiefen um die zwei Meter versanden, so daß die Barren vor der Küste für Schiffe der heute gebräuchlichen Größenordnung keine ausreichende Wassertiefe haben. Anders war es im Mittelalter. Noch bevor der Portugiese Vasco da Gama 1498 nach der Umsegelung Afrikas in Indien landete, betrieben die Araber mit ihren flachgehenden Dhaus von hier einen einträglichen Handel mit Gewürzen. Später kam es zur heftigen Konkurrenz zwischen Arabern und Europäern. Schließlich setzen sich Portugiesen und Engländer an vielen Plätzen durch, im 17. Jahrhundert mußten sie sich gegen die Hinduarmee der Maraten verteidigen. Von der obersten Plattform der Burg bietet sich uns ein phantastischer Blick auf die Küste, die Hügel der Vorgebirge, das Grün der Palmen mit seinen Kontrast zum Blau des Meeres und dem Weiß der Strände.




Zurück von der Pirateninsel

Zurück auf dem Festland, gelingt es uns, gerade noch das letzte Boot des Tages auf die andere Seite des Creeks zu erwischen. Es ist schon Nachmittag und unser Etappenziel heißt Shrivadhan, ein 50 Kilometer von Murud entferntes Fischerstädtchen. Der Weg über die Klippen stellt unsere langsam erstarkende Kondition auf eine harte Probe. Von oben entschädigt uns der Blick für die Anstrengungen: grüne Felder, auf denen Gewürze angebaut werden, wie Gärten angelegt, verschiedene Fischerdörfer mit einem kleinen Hafen, von Palmwäldern gesäumt. Sven, der bis hier eifrig vorausradelte, hat nun Mühe mitzukommen, er  versucht, ein guter Begleiter zu sein und klagt nur wenig, wenn dann über sein Rad, an dem er in unbeobachteten Augenblicken auch mal seine Wut ausläßt. Als an diesem Abend die Dunkelheit überraschend schnell hereinbricht, stoppen wir einen klapperigen Linienbus voller Dorfbewohner und fahren die letzten vier oder fünf Kilometer motorisiert. Am Busbahnhof von Shrivadan finden wir eine "Lodge", in Indien die Bezeichnung für eine einfache Absteige. Das uns zugewiesene Zimmer ist schmutzig und überteuert aber wir sind müde.

Im Gespräch mit Fischern

Den folgenden Tag nutze ich, um einen Besuch am Hafen zu machen. Dort stellt sich mir ein älterer Herr, Mr. Chandra,  mit gepflegtem Auftreten und englischen Sprachkenntnissen  vor, der aus Shrivadan stammt, nun aber in Bombay lebt. Er macht gerade Heimaturlaub bei seiner Familie. Als ich ihm erkläre, daß mich interessiert, was die Fischer der Gegend fangen, begleitet er mich auf die kleine Anlegebrücke und übersetzt bereitwillig meine Fragen. Ich erfahre, daß die Erträge in den vergangenen Jahren erheblich zurückgegangen sind. Schuld seien, so erklären mir die Fischer die sich neugierig um uns drängen, angeblich japanische Fabrikschiffe, die auf hoher See einen großem Teil des möglichen Fangs für sich an Land ziehen. Dennoch werden an diesem Morgen etliche Kisten Frischfisch auf Lkw verladen und abtransportiert. Zurück bleiben einige wenige Körbe mit winzigen Fischlein und Krebsen. Eine alte zerlumpte Frau schiebt sich durch die Menge und erbettelt sich eine Handvoll von dem Beifang. Die Reste des Fangs dienen den Küstenbewohnern dazu, ihrer scharfen Currysoße einen speziellen Fischgeschmack zu geben. Die Fischer erklären, daß es nur bis zum einsetzenden Monsun im Juni möglich ist, gefahrlos zum Fischen hinauszufahren. Für die Zeit der tropischen Stürme wird ein Teil des Fangs durch Trocknen haltbar gemacht. Ich verteile Filterzigaretten an meine Gesprächspartner und fahre zum Hotel zurück, wo eine Reisegefährten schon darauf warten, mit mir in das 30 Kilometer entfernte an der Mündung des Savitri gelegene Bankot zur radeln. Auf der Karte sieht es so aus, als sei der Ort eine kleine Hafenstadt. Also müßte es möglich sein, dort einen Platz zum Übernachten zu finden. Die Landstraße schwingt sich in mäßigen Steigungen über die Klippen und fällt nach kurzer Zeit bereits wieder zum Strand ab. Plötzlich geht es nicht weiter: eine Flußmündung versperrt uns den Weg. Auf der anderen Seite an einem steilen Hang erkennen wir eine Ansammlung von weißen Häusern und eine Moschee. Wir schieben unsere Fahrräder durch den weißen Strandsand auf einen Punkt zu, dem sich ein besegeltes Kanu nähert. Während Christiane und ich unter vorspringenden Felsen Schutz vor der Mittagsonne suchen, fährt Sven mit seinem Rad durch das flache Salzwasser und freut sich daß das frische Naß unter seinen Reifen zur Seite spritzt: ein Vergnügen, das uns später noch einigen Ärger eintragen wird.
 Das Kanu kommt im flachen Wasser zum stehen und einige Frauen springen über Bord und gehen an Land. Jetzt bemerken wir, daß unter anderen Felsen ebenfalls Passagiere im Schatten gewartet haben. Während wir den Fährleuten helfen unsere Räder zu verstauen, suchen sich die übrigen Mitfahrer Sitzplätze im Bug des Bootes.




Abenteuerliche Überfahrt

 Das Auslegerkanu ist etwas undicht und kaum ist das Segel gesetzt, muß auch schon kräftig geschöpft werden. Auf der anderen Seite gibt es einen Anleger aus Beton, der jedoch keine Verbindung zu irgendeiner Straße hat. Zwei Fischkutter schaukeln hier verträumt in der sanften Dünung - wir laden unsere Räder wieder aus. Durch gerade mal schulterbreite Gassen schieben wir unsere Drahtesel steil bergauf, bis wir die Schule erreichen. Offenbar ist gerade Pause, denn Lehrer und Schüler nähern sich staunend. Da die Lehrer als Staatsbedienstete zumeist etwas Englisch verstehen, frage ich ob es im Ort ein Quartier gebe. Der Mann antwortet in gebrochenem Englisch, wir sollten es in Bhagmandla versuchen, dort sei ein Touristenhotel. Der Weg sei allerdings noch weit und führe über Kolshi und Anjarla. Unsere Fragen nach der Beschaffenheit der Straße beantwortet der Mann mit Schulterzucken.

Der freundliche Mr. Ibrahim

Endlich auf der Straße angekommen, lassen wir unsere Räder bergab rollen und finden uns nach kurzer Zeit in Kolshi wieder, einem Ort, der verstreut in einer üppigen Kokosplantage liegt. Doch in der Mittagshitze ist weit und breit ist niemand zu sehen, der uns sagen könnte, wo es nach Anjarla geht. Wir lassen uns in einem Buswartehäuschen nieder und warten ebenfalls ab, daß es kühler wird. Ich muß wohl etwas eingenickt sein, als mich Christiane mit dem Ellenbogen anstößt. über den Dorfplatz schlurft ein schnautzbärtiger Inder direkt auf uns zu. Er stellt sich als Ibrahim vor. Auf Englisch fragt er, ob wir ihm die Freundlichkeit erweisen würden, unsere Mittagsrast in seinem bescheidenen Haus fortzusetzen. Wir folgen Ibrahim bereitwillig und werden auf einer schattigen Veranda mit einem Dach aus Kokosblättern Mutter und Schwester vorgestellt. Zu unserer Erfrischung erhalten wir frische grüne Kokosnüsse aus denen wir die kühle Milch schlürfen. Unterdessen berichtet uns Ibrahim, daß er jahrelang auf einem Containerschiff um die Welt gefahren ist und auch schon einmal in Hamburg gewesen ist. "Reeperbahn", stöhnt er genießerisch und verdreht dabei die Augen. Wir wollen wissen, wo es nach Anjarla weitergeht. Unser Gastgeber schwört, daß es für uns unmöglich ist, diesen Weg ohne seine Begleitung zu finden. Also ziehen wir zu viert weiter und schieben unsere Räder aus dem Dorf durch die Furt eines kleinen, sauberen Bachs. Auf der anderen Seite steigen die Hügel wieder an. Als wir näherkommen stellen wir fest, daß dies die Trasse der in unserer Karte eingezeichneten Straße ist. Der Verlauf ist auch irgendwann planiert und mit einem Schotterbett versehen worden. Die Natur hat mit wucherndem Gebüsch einen großem Teil davon zurückerobert.  Warum die Straße nie eine Teerdecke erhalten hat, wollen wir von unserem Begleiter wissen. Er erklärt uns, ein großer Teil des für den Strassenbau bestimmten Geldes sei in den privaten Taschen der zuständigen Beamten versickert. Hier bergan zu fahren ist kaum möglich. Doch als der Weg wieder abfällt, nimmt Ibrahim Svens Gepäck an sich und unser junger Begleiter zeigt uns, was sein Mountainbike vermag. Als wir verschwitzt unten ankommen, erwartet uns Sven schon im Schatten eines Baumes: der Hinterreifen seines Rades ist platt. Vor uns liegt Anjarla. Wir bedanken uns bei unserem hilfsbereiten  Führer, der nun beginnt, uns zu unserer Überraschung die Rechnung aufzumachen. Schließlich einigen wir uns auf 200 Rupien, umgerechnet zehn Mark.




Fahrradreparatur auf  freier Strecke

In Anjarla finden wir schnell eine kleine Fahrradwerkstatt, die innerhalb weniger Minuten Svens Hinterrad repariert. Hinter dem Dorf steuern wir auf den bei Niedrigwasser trockengefallenen Sandstrand, der hart wie eine Betonpiste ist. Eine Stunde fahren wir am Spülsaum entlang, bis erneut eine Flußmündung mit Fähre auftaucht. Wir setzen über und finden nahe bei Harnai in einem Dorf mit Sandstrand das 1.Klasse-Rest-House Bhagmandla. Es wurde auf den Ruinen einer alten Burg errichtet, von der inzwischen nichts mehr zu erkennen ist. Für indische Provinz hat das Haus erstaunlich viel Komfort, aber auch gehobene Preise. Betreiber ist das staatliche Tourismusunternehmen MTDC. Ein Zimmer hier ließe sich sogar von Bombay aus vorbuchen. Da das Haus eine Ausschankerlaubnis besitzt, gelingt es uns hier wieder ein paar Flaschen Bier zu ergattern. Der Abend ist gerettet. Die Schönheit des Platzes oben auf den Klippen mit dem Stand 50 Meter unter uns, gibt uns Veranlassung, hier einen Rasttag einzulegen. Knapp die Hälfte der Strecke liegt jetzt hinter uns. Bis Ratnagiri, der nächsten richtigen Stadt, sind es noch etwa 90 Kilometer.
Nach unserem Rasttag erreichen wir lediglich den 20 Kilometer entfernten ehemaligen britischen Militärstützpunkt Dapoli. Der Ort liegt etwas abseits der Küste in der angrenzenden Hügelkette. Das heißt tüchtig in die Pedalen treten, wei, es den ganzen Tag fast ausschließlich bergauf geht. Was unser Vorankommen zusätzlich erschwert, ist, daß Svens Gangschaltung streikt. Sie hat das Bad in sandigem Salzwasser offenbar übelgenommen. Immer wieder  müssen wir auf Sven warten, der auch immer schlapper wird. Offenbar hat er sich auf den hinter uns liegenden 260 Kilometern zu sehr verausgabt. Im Zentrum von Dapoli gibt es einen riesigen Exerzierplatz, auf dem die Kinder heute Kricket spielen. Daran grenzen zwei Übernachtungsmöglichkeiten: erstens seine kleine Privatpension ("alles besetzt") und zweitens das Regierungsgasthaus. Derartige "Officer-Bungalows" hatten zur britischen  Kolonialzeit eine wichtige Bedeutung für durchs Land reisende Beamte. Heute stehen sie meist leer und damit auch ausländischen Besuchern offen.



Ein indischer Traumjob

Das Management der Bungalows hat einen typisch indischen Traumjob: tagelang können Manager, Hotelboy und Koch im Schatten liegend auf Gäste warten. Kommt tatsächlich jemand, wird darauf hingewiesen, daß eine Übernachtung unmöglich ist ohne Regierungsauftrag oder ohne eine Anmeldung bei der zuständigen Behörde. In diesen Fällen hilft ein Papier vom Konsulat und ein nicht allzuhohes Trinkgeld. Die Zimmer in Dapoli sind ausgesprochen geräumig, die jeweils drei Betten besitzen Moskitonetze und große Arbeitstische und bequeme Sitzgarnituren. Die Kosten für die Übernachtung sind gering. Für die Beschaffung unserer Malzeiten ziehen wir die Essenstände am Busbahnhof vor, die uns sauberer erscheinen als die Kochstelle des Gasthauses. Im Getriebe der Bushaltestelle treffen wir einen indischen Journalisten, der es fabelhaft findet, daß drei Europäer mit dem Rad durch die Provinz fahren. Er beginnt sofort ein Interview und wir stehen mit einer Mischung aus diplomatischen Komplimenten für das Land und Auskünften über unsere Lebensgewohnheiten Rede und Antwort. Als wir unseren rasenden Reporter aber dann noch zu einem Fotografen begleiten sollen, um auf unsere Kosten eine Aufnahme fertigen zu lassen, verabschieden wir uns freundlich aber bestimmt. Ob jemals ein Artikel über uns erschienen ist ?


Nördlich von Ratnagiri

Unser nächster Anlaufpunkt ist die Burg von Jaigarh, 33 Kilometer nördlich von Ratnagiri. Wieder führt uns der Weg über steile, felsige Hügel bis wir das Hafenstädtchen mit der alten Maraten-Befestigung erreichen in der sich gerade ein Hotel etabliert hat. Der Naturhafen in der Flußmündung des Shastri bietet auch den urtümlich aussehenden Frachtsegelschiffen Schutz, die, von moslemischen Seeleuten gesteuert, hier bei widrigen Winden einlaufen können.
Auf dem Weg nach Süden entdecken wir am Mittag des folgenden Tages die Felstempel von Ganapatipole. Der Pilgerort verfügt sogar über ein einfaches Rasthaus und einen schönen weißen Sandstrand. Wie wir erfahren, müssen sich Gäste, die hier nächtigen wollen, zuvor beim Executive Engineer B&C Division (North) in Ratnagiri anmelden. Wir fühlen uns nach einer kurzen Rast frisch genug zum Weiterfahren.
 Drei Stunden  später befinden wir uns bereits in Ratnagiri, dem einzigen bedeutenden Ort zwischen Bombay und Goa. Die Stadt mit etwa 50.000 Einwohnern besitzt ausgedehnte  Hafenanlagen . Von den drei Becken sind jedoch zwei total versandet. An der Pier liegen ein paar Fischkutter. Für große Schiffe gibt es eine Lösch- und Ladebrücke ins tiefere Wasser. Die Luftkissenfähre, die zwischen Bombay und Goa verkehrt, macht  hier täglich  Halt und nimmt Proviant und Passagiere an Bord. Der Ort mit einer alten Befestigungsanlage ist von schönen Stränden umgeben, von denen die Buchten von Bhagwati und Mirya (fürnf Kilometer vom Fort entfernt)  besonders zu erwähnen sind. Außer Tausenden von kleinen Krebsen trifft man hier nichts und niemanden. Die steil zum Strand abfallenden Felsen bieten Schutz vor der Sonne. Ratnagiri besitzt eine meeresbiologische Forschungsstation, das “Fish Research Center”, das zu Besichtigungen zur Verfügung steht. Die Wissenschaftler sprechen Englisch und erklären gern ihre Arbeit.
Einen Platz zum Übernachten zu finden ist kein Problem. Wir entscheiden uns für ein Gasthaus an der Hauptstraße, dessen Besitzer sich fast überschlägt, um uns zufrieden zu stellen. Wir genießen den gastfreundlichen Ort und beschließen, hier wieder mal  einen Tag Pause einzulegen.
 Als wir die Karte studieren und die Leute fragen, wie wir am besten weiter nach Süden kommen, wird uns klar, daß der einzige Weg offenbar in die Vorberge nach Rajapur führt. Eine sichere Straße über das Mündungsdelta des Vagothan ist jedenfalls nicht auszumachen, so daß wir beschließen, unsere Fahrräder erneut auf das Dach eines Busses zu verladen und die 100 Kilometer küstenabwärts nach Vijaydurg mit Hilfe des überall gegenwärtigen indischen Nahverkehrs zu machen. Gegen eine Weiterfahrt mit dem Rad sprechen zwei gewichtige Gründe. Erstens müßten wir ein Stück auf den National Highway 17 fahren, der täglich seinen Blutzoll fordert und als eine der betriebsamsten und gefährlichlichsten Straßen Indiens gilt. Zweitens ist uns nicht klar, ob es auf der Strecke irgendeine Übernachtungsmöglichkeit gibt.




Der Frieden der Seeadler

Fünf Stunden ist der Bus unterwegs, der uns in der Dämmerung im Fischerdorf Vijayadurg ausspuckt. Beim Abladen unserer Räder sind wir gleich dicht umringt von indischen Jungs, denen wir klarmachen können, daß wir nun ein Zimmer suchen. Diensteifrig werden wir durch den Ort geleitet, in dem es nun stockdunkel ist. Das elektrische Licht ist entweder bis hierher noch nicht vorgedrungen oder es ist mal wieder Stromausfall. Also tappen wir bergan ohne zu erkennen wo wir sind.
 Plötzlich stehen wir vor einem Beamtenbungalow, dessen Hüter sich von unseren Papieren und unseren Bitten nicht erweichen läßt und uns die Unterkunft im Quartier für reisende Regierungsbeamte verweigert. Weil es schon dunkel ist und man uns nicht wegschicken kann, richtet uns der Verwalter des Bungalows in seiner Privatwohnung einen Raum mit Matratzen zur Übernachtung her. Auf unser Bitten erhalten wir ein typisch indisches Gemüsegericht mit Reis und Brotfladen. Nach der Malzeit sinken wir totmüde auf unsere Decken und schlafen tief und traumlos bis uns beißender Rauch weckt, der durch das geöffnete Fenster hineinzieht. Unser Gastgeber hat seine Kochstelle hinter dem Haus angeheizt, um den Morgentee zu bereiten. Ich schwinge mich aus meinem Schlafsack und spähe aus der niedrigen Tür. Vor mir breitet sich ein atemberaubendes Panorama aus. Unser Quartier steht auf einem Hügel an dessen Fuß sich ein palmengesäumtes Dorf mit zahlreichen Hütten an einem schneeweißen Sandstrand ausbreitet. überall dort unten steigen kleine Rauchschwaden auf, die davon künden, daß für die Bewohner der Tag begonnen hat. Auf der anderen Seite der Bucht steht auf einem riesigen Felsen eine gewaltige Burg mit Zinnen und Bastionen so da, als ob sie von den Portugiesen gerade erst gestern verlassen worden sei. Hinter der Burg befindet sich die Einfahrt zu einem sicheren Hafen in der Flußmündung, der kleineren Schiffen perfekten Schutz vor dem Südwest-Monsun bietet. Über allem schweben im Licht der aufgehenden Sonne zwei Seeadler, deren Schreie mir plötzlich die Stille und den erhabenen Frieden dieses Ortes deutlich machen. Ich setze mich auf einen Stein und genieße diesen Augenblick unserer Reise bis ich zum Tee gerufen werde.
Unser Frühstück schließlich nehmen wir später unten im Ort ein, während unsere Räder in einer Werkstatt durchgecheckt und repariert werden.

Die Felsen von Vengurla

Unser nächstes Etappenziel heißt Devgarh, ein Fischerdorf mit einem kleinen Hafen, einem Postamt und einem Krankenhaus. Tief schneidet hier eine Bucht ins Land, die wir landeinwärts umradeln. Die Küstenebene wird hier immer breiter und wir müssen darauf achten, nicht den Weg, der sich am Strand entlangzieht, zu verlieren.
Vor unserer Weiterreise in Devgarh empfiehlt man uns ein "Beach-Ressort" im 30 Kilometer südlich gelegenen Malvan. Als wir den Ort am Abend unseres elften Reisetages erreichen, weisen uns ein paar indische Jungs den Weg zu einem Zeltplatz. Etwa 30 dieser ambulanten Unterkünfte drängen sich auf einem mit dichten Büschen und Bäumen bewachsenen Platz direkt am Strand. Der freundliche Manager weist uns ein blitzsauberes Zelt mit drei schneeweiß bezogenen Betten zu. Wir duschen in einem Duschhaus am Rand der Anlage und begeben uns ins Strandrestaurant, das neben den indischen Spezialitäten auch europäische Kost (Nudeln, Eier und Toast) anbietet. Wir lassen es uns so richtig gut gehen und haben das Gefühl, dies durch die Entbehrungen der vergangenen Tage auch redlich verdient zu haben. Die Gastlichkeit des Ortes verleitet uns dazu,  hier zwei Ruhetage einzulegen. Wir spazieren am Strand entlang, genießen ein Bad in den hohen Wellen und die anschließende Süßwasserdusche. Im nahegelegenen Dorf sind Korbflechter und Bootsbauer bei der Arbeit zu beobachten.
Von Malwan aus entdecken wir draußen auf See die Vengurla Rocks, Klippen die seitjeher für die Schiffahrt gefährlich waren. Vor der blutrot untergehenden Sonne kann man die Felseninseln für die Segel arabischer Piratenschiffe halten, die früher den Landstrich plünderten. Heute krönt ein Leuchtturm den größten der Felsen und sorgt dafür, daß jede Verwechslung ausgeschlossen ist und Schiffe hier nicht mehr stranden können.

Der Blick auf die Klippen von Vengurla begleitet uns auf dem Weg nach Süden bis nach Goa.
Mehr als 450 Jahre wurde Goa durch europäische Kolonisten geprägt. 1506 eroberten die Portugiesen diesen vielleicht schönsten Abschnitt der indischen Westküste, um hier die Hauptstadt des Orients zu etablieren. Die Lage war einmalig: direkt im Schnittpunkt wichtiger Seerouten vom Persischen Golf und Ostafrika nach Ostasien. Gewürze, Seide, Edelsteine und -metalle wurden hier genauso gehandelt wie zum Beispiel arabische Pferde. Die Portugiesen betätigten sich häufig nur als Zwischenhändler für Waren die für das wohlhabende hinduistische Königreich Vijayanagar im Hinterland bestimmt waren oder von dorther zur Verschiffung herantransportiert wurden. Wunderbare Zeugnisse der kolonialen Architektur der portugiesischen Siedler haben sich hier seit 400 Jahren bis heute erhalten. So zieht es viele Besucher in die alte Stadt Goa (Old Goa), mit seinen Kirchen und Kathedralen aus dem 16. Jahrhundert. Unser Ziel ist eine andere Sehenswürdigkeit. 15 Tage nach unseren Aufbruch in Bombay erreichen wir mit Mapusa die erste Stadt in Goa. Von hier sind die nördlichen Strände erschlossen: Calangute, Baga, der Hippiestrand Anjuna und die beiden ruhigeren Strände Chapora und Arambol.  Unweit von letzterem Ort gibt es am Strand einen Süßwassersee und ein wenige Quadratkilometer umfassendes Dschungelgelände.




Wo John Lennon Erleuchtung fand

Zunächst müssen wir mit einer wenig Vertrauen erweckenden Autofähre den Chapora Creek sowie ein paar wirklich steile Hügel überqueren. Vom höchsten Punkt beginnen unsere Räder wie von allein zu fahren - Sven ist zum fünften und letzten Mal die Fahrradkette gerissen. Wir rollen einen schmalen Hohlweg zum Strand hinunter, vorbei an Hütten, Mangobäumen und abgeernteten Reisfedern, bis wir am Strand sind. Hier schließen wir unsere Räder fest und hinterlassen sie in Obhut eines Restaurantbesitzers.  Zu Fuß führt unser Weg gut 300 Meter am Strand entlang, dann steigen wir einen gut ausgetretenen Weg über die Klippen. Schließlich erreichen wir den Süßwassersee und machen uns nach einem erfrischenden Bad auf in den Dschungel. Nach einer weiteren halben Stunden erreichen wir den Baum: Indiens einziger Naturtempel für Nichthindus. Wie eine riesige Kathedrale reckt der Banjan-Baum seine Äste mit den herabhängenden Luftwurzeln über einen sauberen, mit Matten ausgelegten Platz. Am dicken Baumstamm mit gut fünf Metern Durchmesser haben unzählige von Besuchern Erinnerungen hinterlassen: Bilder, kleine Briefe mit Weisheiten und Wünsche, Statuen, Schmucksteine oder Muscheln. Die Sage geht, in den siebziger Jahren hätte hier John Lennon Erleuchtung gesucht. Und noch heute sitzen in dem Rund unter dem Baum Meditierende, ein schon betagter Schweizer legt für eine junge Amerikanerin die Karten, andere Besucher kochen gemeinsam ein vegetarisches Gericht. Die Kommune unter dem Baum ist ein lebendiges Relikt jener Zeit, als vor zwanzig Jahren Leute aus der gesamten westlichen Welt nach Indien strömten um Alternativen zur materiell gesinnten Welt ihrer Eltern und Großeltern zu finden. Manche landeten bei einem Guru, viele wurden von Scharlatanen betrogen und ausgenommen oder Ideologien unterworfen die ihnen mehr Freiheit nahmen als gaben. Unter dem Baum in Arambol geht es undogmatisch zu. Gläubige aller Religionen sind hier willkommen, einen Guru, Leiter oder ein Oberhaupt gibt es hier nicht. Freundlich werden wir aufgenommen. Jetzt werden wir uns ganz lange ausruhen dürfen.
Der Wirt, der unsere Fahrräder in Verwahrung genommen hatte, frage uns am folgenden Tag, ob wir diese nicht verkaufen wollten. Wir trennten uns leicht von ihnen, bekamen aber für alle drei nur noch den Preis, den wir für ein neues bezahlt hatten. Doch egal - den Rückweg nach Bombay werden wir hochkompfortabel mit der Luftkissenfähre antreten.



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