23 Oktober 2011

LEBEN UND STERBEN AUF DER ABWRACKWERFT Jeden Tag ein Schiff – jeden Tag ein Toter

EIN BERICHT AUS DEM JAHR 1994. LEIDER HATTE ICH KEINE MÖGLICHKEIT IN DEN VERGANGENEN 17 JAHREN ZU ÜBERPRÜFEN, OB SICH DIE VERHÄLTNISSE GEBESSERT HABEN. DIE INDER HALTEN DEN BEREICH SEIT JAHREN STRENG ABGERIEGELT.



Schon von weitem hatten wir die Rauchschwaden über den wracken Schiffsrümpfen gesehen. Kilometerweit waren wir mit dem altersschwachen Taxi durch Altmaterialien aus ausgeweideten Schiffskajüten gefahren. Jetzt, an einem der Werktore drohte das Ende unserer Expedition zum größten Abwrackplatz der Welt. Rund 20 000 Arbeiter zerschneiden hier an der Küste des indischen Bundesstaates Gujerat jährlich etwa 300 Schiffe aus aller Welt. Immer etwa 50 gleichzeitig. Seit eine Fernsehgesellschaft einen kritischen Film über Abwrackplätze wie diesen gedreht hatte, lassen sich Indiens Abwracker nicht mehr gern bei der Arbeit zusehen. Mit vielen guten Worten und der Beschwichtigung, daß wir keine Journalisten, sondern nur harmlose Touristen seien, verschafften wir uns schließlich Einlaß.

Am Strand sterben die Kolosse

War schon der Eindruck der Anlage aus der Ferne überwältigend gewesen, fühlten wir uns jetzt wie im Zentrum einer Hölle aus Schneidbrennern, braunen Leibern, öligem Sand und messerscharfen Stahlplatten. Der Strand von Alang ist in einige Dutzend „Plots" aufgeteilt. Auf jedem der Plots zerteilt ein Untermen Schiffe, die es t~ber Broker (Makler) auf dem weltweiten Markt für schrottreife Wasserfahrzeuge aufgekauft hat. Moderne Frachter haben gerade mal 15 bis 20 Jahre. Dann sind sie abgeschrieben und meist auch unrentabel. Selten wird ein Schiff älter als 30 Jahre. Die Seelenverkäufer werden zu einem Preis, der sich um die 115 Dollar pro Tonne Leergewicht bewegt, aufgekauft und nach Alang gebracht, wenn möglich mit eigener Kraft. Hier an diesem Küstenabschnitt steigt und fällt das Wasser mit den höchsten Tiden um mehr als acht Meter. Diesen Umstand machen sich die Abwracker zunutze. Hat das Wasser seinen höchsten Stand erreicht, werden die zum Sterben bestimmten Kolosse von einheimischen Lotsen mit viel Fingerspitzengefühl so hoch wie möglich auf den schlammigen Strand in eine enge Lücke zwischen den anderen Wracks gefahren. Dabei darf der Rumpf nicht querschlagen und nicht umkippen: jede künstliche Strandung ein nautisches  Messingkompaß über Farbfernseher, Faxgeräte, Kühlschränke bis zu den Rettungsbooten - von Generalaufkäufern abgeholt. Diese Ware findet auf dem indischen Markt Wiederverwendung. Manch älteres Messingteil kehrt als Antiquität nach Europa oder Amerika zurück.

  
Im Kreuzfeuer der Kritik

Die Männer mit den Brennern arbeiten nach einem genauen Abwrackplan. Erster Schritt ist das Öffnen des Rumpfes, damit Licht und Luft in die ansonsten stockdunklen Laderäume dringen kann. Dies hat auch den Vorteil, daß der Schiff bei unerwartet hohen Wasserständen nicht mehr aufschwimmt und Schaden anrichtet. Zerlegt werden die sterbenden Giganten nach statischen Gesichtspunkten. Nach den Decksaufbauten werden die nicht tragenden Teile zuerst entfernt. Bei entsprechenden Hochwassern ist es möglich, die Schiffe oder unhandliche Teile gelegentlich noch etwas höher an den Strand und damit näher an die Lastwagen zu ziehen, die den Schroff in handlichen etwa sechs bis acht Quadratmeter großen Platten abtransportieren. Nach ungefähr zwei Monaten ist das Schiff verschwunden. Der Strand wird aufgeräumt, der nächste Todeskandidat kann kommen. Ähnlich wie in Alang wird in Bombay gearbeitet, im pakistanischen Gaddani oder in den Sundarbarns in Bangladesch.
Diese Industrie der internationalen Schiffsentsorgung ist in jüngster Zeit in ein Kreuzfeuer der Kritik von Umweltschützern, Gewerkschaften und Dritte-Welt-Organisationen geraten.

Ein Schutzhelm ist die Ausnahme

Besonders erschütternd sind die Arbeitsbedingungen auf den asiatischen Abwrackwerften. In Alang sagen die Arbeiter: "Jeden Tag ein Schiff - jeden Tag ein Toter." Tatsächlich sterben allein dort jährlich zwischen 40 und 400 Arbeiter bei Arbeitsunfällen. In den Wracks lauert der Tod. Es gibt keine Möglichkeit Leitungen und Tank zu entgasen, bevor sie mit den Brennern geöffnet werden. Immer wieder erschüttern deshalb Explosionen die Plots. Die Verletzten werden auf eine eigens von den Abwrackern unterhaltene Unfallstation im 60 Kilometer entfernten Bhavnagar gebracht. Schwere Eisenteile werden von den Decks der Wracks aus mehr als 10 Metern Höhe auf den Strand geworfen, wo Arbeiter herumlaufen, die nicht einmal Schuhe oder Schutzhelm tragen. Unter den barfüßigen Arbeitern von Alang gehören Schweißer mit Schutzbrille, Helm, Handschuhen und Stiefeln zur Ausnahme. Der Kopf wird meist nur von einem Stirntuch vor der sengenden Sonne geschiitzt. Atemschutzmasken sowie Schutzkappen für die Gasflaschen der Schweißbrenner sind unbekannt. So menschenverachtend die Arbeitsbedingungen sind, so grausam Arbeiter. Sie leben teilweise mit ihren Familien in ausgedehnten slumartigen Wohnvierteln in direkter Nähe ihres Arbeitsplatzes. Luft, Wasser und Nahrungsmittel sind mit austretenden Giftstoffen kontaminiert. Wer nicht durch einen Arbeitsunfall zu Schaden kommt, hat gute Chancen, durch die Vergiftung der Umwelt vorzeitig zu sterben. Das einzige, was die Männer bei der Stange hält, ist ein für indische Verhältnisse mäßig hoher Arbeitslohn von bis zu 3000 Rupien (150 Mark) im Monat.

Schwimmende Giftmülllager

Die Umweltorganisation Greenpeace kürzlich ein für Alang bestimmtes Schiff besetzt um gegen die Abwrackpraxis in Asien zu protestieren. Für die Aktivisten der Umweltorganisation ist diese ein Verkappter Export von Giftmüll in die Dritte Welt. Aus EU-Ländern ist ein derartiger Export nach dem Baseler Abkommen für Giftmülltransporte seit dem 1.1.1998 verboten. In den Schiffswracks steckt nicht nur tonnenweise wertvoller Stahlschrott, sondern auch hochbrisanter Sondermüll. Fast alle alten Schiffe sind mit Isoliermaterialien aus Asbest, vollgestopft. Viele der eingebauten Materialien enthalten in hohen Konzentrationen Dioxine, Schwermetalle, PBCs und andere giftige lnhaltsstoffe. Zusammen mit Altöl und anderem unverwertbaren Giftmüll aus den Schiffen wird dieses Material einfach ins Meer geworfen oder am Strand verbrannt. Die betroffenen Strände sind oft auf hunderte von Kilometern verölt und verseucht.
Nicht nur unseriöse Reedereien entledigen sich auf diese Weise ihre~ brisanten Altfahrzeuge~ 1993 suchte die Bundesmarine einen Abnehmer für ihr ausgedientes Schulschiff ,,Deutschland". Weil in den Einbauten und hinter den Wandverkleidungen insgesamt sechs Tonnen Asbest steckten, fand sich in der westlichen Welt keine Abwrackwerft. Jetzt liegt das Asbest aus der ,,Deutschland" irgendwo am Strand von Alang. Das zu einem Unternehmen der Deutschen Bahn AG gehörende Fährschiff ,,Theodor Heuß", die zur Flotte des deutschen Puddingmagnaten Dr. Oetker gehörende ,,Columbus New Zealand" oder die ,,Saar Ore" und die u~~Neckar Ore" der ,,Krupp Seeschifffahrt Hamburg" fanden ihr Ende am Strand von Alang.

Stahlschrott ist dringend nötig

Indien braucht den Stahlschrott dringend als Rohstoff. Nach Qualität sortiert gehen jährlich allein in Indien über neun Millionen Tonnen Stahl aus den rund 400  abgewrackten Hochseeschiffen in die Stahlwerke. Dies sind immerhin 15 Prozent des Jahresverbrauches der indischen Stahlindustrie. Allerdings ist die Qualität der wiederverwertbaren Materialien abnehmend. Grund ist eine Veränderung im Schiffbau. Durch veränderte Konstruktionen mußten die Legierungen des verwendeten Stahls angepaßt werden. Das verwendete
 Material wurde leichter und billiger, sondert nun beim Verarbeiten und Abwracken mit Hilfe von Schweißbrennern verstärkt giftige Dämpfe ab. Durch längere Fahrzeiten und schlechtere Instandhaltung stieg der Rostanteil der Schiffe. Mancher alte Kahn, dessen Beschreibung sich für die Inder recht gewinnbringend anhörte, entpuppte sich als dermaßen verrostet, daß er die einheimischen Unternehmen an den Rand des Konkurses brachte. Der Anteil an hochwertigen Kupferleitungen und Messingbeschlägen ging im Schiffbau stark zurück. Damit auch die Gewinne der Abwracker.


Die Gewinne schwinden

Mittlerweile ist die Abwrackindustrie in einigen asiatischen Ländern bereits wieder auf dem Rückmarsch. Sinkende Renditen und um 50 Prozent gestiegene Einfuhrzölle auf Altschiffe haben den einstmals riesigen Schiffsfriedhof von Gaddani (Pakistan) erheblich schrumpfen lassen. Von 150 Abwrackwerften haben mehr als 100 geschlossen. Die Branche befürchtet in Pakistan den Verlust von insgesamt 80 Prozent der in besten Zeiten 35 000 Arbeitsplätze auf den Abwrackwerften.
Sowohl Pakistan wie auch Bangladesch und Indien haben im vergangenen Oktober gemeinsam an die weltweit operierenden Makler appelliert, Schrottschiffe billiger anzubieten. Gemeinsam wollen diese drei Länder künftig ihre Interessen vertreten. Wer aus Sicht der Asiaten hinter der sich anbahnenden Krise der Abwrackindustrie vermutet wird, sprach der Präsident der indischen ,,Iron, Steel Scrap & Shipbreakers Association" (Eisen, Stahlschrott und Abwracker Vereinigung), Pravin 5. Nagarsheth, aus:
wachsende Drohungen und Propaganda internationaler Umweltschützer.

Sauberes Abwracken ermöglichen

Hier könnte ein Ansatzpunkt für Gespräche sein. Die Abwracker in der Dritten
Welt brauchen den Schrott, nicht aber den Giftmüll. Die Technik für
Arbeitsschutz und umweltschonende Schiffsbeseitigung steht längst zur
Verfügung, wie Abwracker an der US-amerikanischen Küste vormachen. Im
Interesse der gesamten Welt sollte den Entwicklungsländern der Einstieg in
eine saubere Abwrackindustrie ermöglicht werden.


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